Unterschiede, die einen Unterschied machen

Geflüchtete Menschen, die wir zu Beginn unserer Aktivitäten im Freundeskreis Anfang 2014 kennen lernten, reden heute über "die Flüchtlinge" und meinen die neu angekommenen, meist syrischen Menschen, die viel Unterstützung erfahren. Sie erinnern sich, wie sie mühsam bis nach Ammersbek kamen, als afghanische Familien lange in einem Raum lebten und bis heute keinen Anspruch auf Deutschkurse haben. In Afghanistan waren sie angesehene Menschen mit einem gewissen Wohlstand. Anschließend als Flüchtlinge im Iran waren sie nicht gern gesehen. Sie hatten aber die Möglichkeit für die Familie Geld zu verdienen, da die persische Sprache (Farsi/Dari) und die Kultur vertraut waren. Aber sie wurden ausgegrenzt. Sie schildern, dass Jugendliche praktische Ausbildungen gegen Bezahlung nach der Schule machten. Die iranischen Jugendlichen bekamen ein Zertifikat, afghanische Jugendliche grundsätzlich nicht.

Wir Deutschen würden den Unterschied zwischen den Menschen aus dem Iran oder Afghanistan nicht einmal merken.

Unter unseren geflüchteten Männern ist einer, der aus Armenien nach Syrien ging, um in der IT Branche Geld zu verdienen. Durch den jahrelange Krieg sah er dort keine Perspektive und so zog er weiter nach Europa. Als ich mit ihm sprach erklärte er mir, dass die Armenier sich als die ersten Christen verstehen. Die Armenische Apostolische Kirche ist die älteste eigenberechtigte Kirche der Welt und beansprucht von Aposteln gegründet worden zu sein. Der Überlieferung nach haben die Apostel Judas Thaddäus und Bartholomäus in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts in Armenien gepredigt, christliche Gemeinden gegründet und das Martyrium erlitten. Die Grenzziehungen der neuzeitlichen Staaten kümmerten sich nicht um die Armenier, so liegt ihr Gebiet heute im Iran, in Russland und in Armenien. Der Völkermord der Armenier im ersten Weltkrieg durch das Osmanische Reich hatte vermutlich als Vorgeschichte, dass einige Armenier hofften, mit russischer Unterstützung ihre Unabhängigkeit vom muslimischen Staat zu erreichen.

Wir Deutschen würden den Unterschied zwischen einem Armenier, einem Syrer und einem Türken nicht auf dem ersten Blick erkennen.

Unsere neuen syrischen Mitbürger wurden zunächst zusammen als "Syrer" gesehen. Erst nach und nach merken wir, dass einige "arabische Syrer" und einige "kurdische Syrer" sind. Aus "Welt- und Kulturgeschichte" der ZEIT(Band 16  S. 147)zitiere ich eine kurze Information zu dem Thema Kurden: "Das Siedlungsgebiet der Kurden hat noch nie einen eigenen Staat gebildet und ist bis heute aufgeteilt zwischen der Türkei, Iran, Irak und Syrien.  Zwar stellte der Frieden von Sèvres 1920 den Kurden Anatoliens unter bestimmten Bedingungen einen eigenen Staat in Aussicht, aber schon im Vertrag von Laussanne war davon nicht mehr die Rede. Häufig wurde der wachsende kurdische Nationalismus in zwischenstaatlichen Konflikten ausgenutzt: Syrien unterstützt die Kurden der Türkei, Iran diejenigen in Irak und umgekehrt. Keiner dieser Staaten respektierte jedoch die Kurden im eigenen Land als Minderheit; Autonomieforderungen wurden als Bedrohung verstanden und gewaltsam unterdrückt. Die Türkei verbot zeitweise sogar den Gebrauch der kurdischen Sprache. Dieses Vorgehen gegen jedes Bekenntnis zum Kurdentum steigerte die Bereitschaft der Kurden zur Radikalisierung ihrer Autonomiebestrebungen."

Und nun leben in den Unterkünften arabische und kurdische Syrer in einem Raum und Deutsche verstehen nicht die Ursache der Konflikte bei den Landsleuten.

Im Juni 2016 war Ramadan, der Fastenmonat der Muslime. Ramadan richtet sich nach dem kürzeren Mondjahr und verschiebt sich jedes Jahr etwas gegenüber unserem Kalender. Alle Muslime, mit denen ich sprach, fasteten. Ausgenommen sind Kinder und Kranke. Hier im Norden bedeutet kein Essen und Trinken von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang im Juni lange anstrengende Tage. In Breiten, wo diese Zeiten das ganze Jahr 6 - 18 Uhr ist, ist diese "Reinigung" schon sehr anstrengend. Hier in Norddeutschland wird es im Juni zu einer besonderen Leistung! Wenn die Sonne untergegangen ist, wird gegessen und getrunken und kurz bevor die Sonne aufgeht. Das kann Unruhe für Nachbarn der Etagenwohnung bedeuten, wenn kurz vor 4 Uhr Morgens aufgestanden und gegessen wird. In muslimischen Ländern stellt sich das Alltagsleben auf den Lebensrhythmus beim Fasten ein. In Norddeutschland ist durch die kühlere Temperatur sowieso ein anderes Alltagstempo möglich, als in Ländern mit 40-50 °C. In der Fastenzeit wird das normale deutsche Tempo für die Fastenden besonders hart. Ich hörte keinen Menschen klagen, es gehört selbstverständlich zum Jahresablauf. Ab 5. Juli wird Fastenbrechen drei Tage gefeiert (Zuckerfest). Dann gibt es viele Leckereien!    

Zu dem Wunsch, dass sich diese zu uns geflüchteten Menschen in der Sprache, der Kleidung und den Essgewohnheiten möglichst schnell anpassen, möchte ich Ihnen von unseren persönlichen Erlebnissen mit Nachfahren von deutschen Flüchtlingen berichten, die wegen Hunger oder Krieg  Deutschland verließen. Mein Mann und ich waren Anfang der 90er Jahre mit unserem Chor in deutschstämmigen protestantischen Gemeinden (La Plata Gemeinden) in Südamerika. Viele der Vorfahren waren um 1850 nach Brasilien, Argentinien, Uruguay, Paraguay ausgewandert, 25 Jahre später gab es eine weitere Auswanderungswelle und um den zweiten Weltkrieg herum eine weitere. Die Auswanderer wurden teilweise angeworben und sie kamen in eine für sie fremde Welt: anderes Klima, andere Pflanzen und Feldfrüchte, Hartholz im Urwald und Indios. So wurde das gemeinsame Festhalten am Vertrauten Kraft spendend. Wir wurden z. B. in Brasilien in den Gemeinden auf Deutsch begrüßt. Die Gespräche beim Churrasco (grillen mit Spieß) wurden mit uns auf Deutsch geführt. Uns wurde berichtet, dass es einen Einschnitt gab es, nachdem Brasilien im 2. Weltkrieg Deutschland den Krieg erklärte, den dortigen deutschen Institutionen (z.B. Schulen) den Grundbesitz konfiszierte und die deutsche Sprache verbot. Bei unseren Besuchen sprachen die jungen Menschen kein Deutsch mehr, aber viele verstanden uns noch. Die ganz Alten sprachen nur gebrochen brasilianisches Portugiesisch, obwohl sie dort geboren wurde. Zum Tanz spielte eine Blaskapelle mit alten Weisen auf. Ein seltsames Beispiel von Deutschtum waren "Fritz und Frieda", die in Überlebensgröße auf verschiedenen brasilianischen Marktplätzen, die in hellblau und weiß bayrisch mit Dirndl und kurzen Hosen bekleidet waren. Auf dem Farmermarkt fanden wir Gläser mit "Schmier de Figa"  (Feigenmarmelade) und "Miliebrot" (Mais gab es im 19. Jahrhundert in Deutschland nicht und so nahmen sie das portugiesische Wort milho) Und in dem bergigen Südbrasilien bestaunten wir in verschiedenen Orten Häuser im Fachwerkstil. Wir sahen, dass sich nach 140 Jahren deutscher Besiedlung noch viel konserviert hatte, wie die alte Sprache, zu Marmelade Schmier zu sagen und das "Plattdeutsch der Pommeranos" (Menschen aus Pommern) das mit dem heutigen Platt kompatibel ist. Eine alte Tradition aufzugeben wurde lebensgefährlich: Seit die hellhäutigen blonden "Pommeranos" ihre langärmelige Kleidung mit den großen Hüten aufgaben, wächst die Hautkrebsrate enorm.

Mir helfen diese Erinnerungen, Muslimas ihre Kopftücher zu lassen, meine Ungeduld zum Thema Kindergarten zu zügeln und die Irritationen der Männer über die Rolle der Frauen im Freundeskreis, die Auswirkungen auf ihre Frauen haben, zu verstehen.  

Karin Wisch